Ungarische
Compagnie beschließt das Schrittmacher-Festival
Sabine Rother @ AachenerZeitung
18. MÄRZ
2016
Sie
ernteten euphorischen Applaus in der Fabrik Stahlbau Strang: Die
Compagnie Pal Frenak beschloss in Aachen das diesjährige
Schrittmacher-Festival.
AACHEN Sie
stürzen über die Bühne, ihre Körper scheinen in
Auflösung begriffen, um sich danach sofort wieder in neuen Posen
und Bewegungsmustern zu manifestieren — menschliche
Kaleidoskope, die erschauern lassen und widersprüchliche Gefühle
wecken
Mit
der ungarischen Compagnie Pal Frenak, die seit 1999 in Budapest und
Paris beheimatet ist, findet das Schrittmacher-Tanzfestival 2016 in
der Aachener Fabrik Stahlbau Strang einen starken Abschluss.
Die Gäste, die vor zwei
Jahren mit akrobatischem Modern Dance an schwingenden Seilen
begeisterten, haben diesmal die verstörende und tiefgründige
Choreographie „Birdie” mitgebracht, ein Stück über
die Grauzone zwischen Traum und Wahn, in der die Menschen an ihren
emotionalen Fesseln zerren, Wünsche zu Obsessionen mutieren,
Entgrenzungen stattfinden. Fliegen wie ein Vogel — dieser
Gedanke sowie Alan Parkers Antikriegsfilm „Birdy“ (1984)
nach William Warthons gleichnamigem Roman haben Pal Frenak zu dieser
Choreographie inspiriert.
INFO
Einen
neuen Besucherrekord kann das Schrittmacher-Tanzfestival 2016
vorweisen. Rund 5500 Karten wurden in Heerlen verkauft, 9000 waren es
für die Aachener Fabrik Stahlbau Strang.
„14.500
Zuschauer und ein Publikum, das zum Teil aus dem Ausland anreist, das
ist ein schöner Erfolg“, freut sich Veranstaltungsleiter
Rick Takvorian, der mit Organisationskollegin Stefanie Gerhards
Bilanz zieht. „Das Festival ist etabliert, zugleich ist es
weiterhin jung und experimentell geblieben.“
Gruppen
aus Mexiko und China standen erstmals auf dem Programm, im nächsten
Jahr erwartet man unter anderem Gäste aus Israel.
Das
nächste Schrittmacher-Tanzfestival Aachen/Heerlen findet vom 10.
Mai bis zum 9. April 2017 statt.
Und so bewegen sich die
Tänzer immer wieder wie hüpfende, sich im Geäst sicher
fühlende Vögel auf den silbrig glänzenden Stangen
einer geometrischen Konstruktion, die die Bühne bestimmt. Drei
schräg gestellte Pyramiden verbinden sich zu einem Labyrinth der
Gefühle, Ängste und Kämpfe. Mal ist es der
beängstigend tropfende Ton eines Echolots, dann wieder ein
Brausen, ein dumpfer Herzschlag oder die schmelzende Arie von
Puccinis „Madame Butterfly” und die herzzerreißende
Cello-Passage aus einer Bach-Suite, von Musiker Endre Kertész
live gespielt, die das Ringen, Gleiten, Einander-finden und Verlieren
leiten. Norman Levy hat eine Soundkulisse geschaffen, der man sich
nicht entziehen kann. Zuhören und Zuschauen verstärken die
Intensität des Mitfühlens.
Irgendwann stellt sich
Beklemmung ein, dann wieder Trauer und Rührung. Das alles vermag
eine Performance des Modern Dance, die bei der Compagnie Pal Frenak
zur theatralischen Form gereift ist. Dabei fließen klassisches
Ballett und alles, was mit Bewegung zu tun hat, in den Adern der
muskulösen Männer, zu denen später auch zwei starke
Frauen — eine Tänzerin und ein Model — treten.
Die geometrischen
Bühnenelemente, die Winkel und Geraden bildende Gestänge
sind Ort körperlicher und gestalterischer Höchstleistungen,
Spagat in der Vertikalen, Balance, weiche, rasche Stellungswechsel
und immer wieder subtil eingesetztes Vogelverhalten. So hocken sie
auf Ästen, die Arme werden zu kleinen zuckenden Flügeln,
der Kopf, der sich ruckartig bewegt, ist eingezogen. Es kommt zu
unwillkürlichen Putzbewegungen, und die Vogelblicke halten
beständig sichernd Ausschau nach einem Feind aus der Luft.
Dass Pal Frenak das
Vogel-Thema durchaus auch witzig umsetzen kann, zeigt ein kleines
Tango-Intermezzo mit balzenden „Männchen“, die ein
„Weibchen“ anschmachten. Als dann schließlich mit
dem großen, schönen, dunkelhäutigen Model ein
besonderes Exemplar auftaucht, ist einer der kleinen Vogelherren
komplett aus dem Häuschen.
Kämpfer im Krieg
Zeitweise drastisches
Tanztheater beherrscht die Szene, man ahnt Krieg, Soldaten, die sich
vor dem Sperrfeuer der Gegner in Sicherheit bringen. Sie robben über
die Bühne, taumelnd bewegt sich ein Mann durch die Stangen —
sein Kopf ist wie bei einem Gasopfer oder nach einer Augenverletzung
komplett zugewickelt. Das ist gruselig und tänzerisch
faszinierend.
Hochgewachsen ist die
einzige Tänzerin im Ensemble. Während sich die Männer
balgen, promeniert sie im sexy Outfit auf Highheels an ihnen vorbei.
Niemand beachtet sie. Dann wieder drängt ein Tanzpaar Haut an
Haut inein-ander, zwei Ertrinkende, die sich aber nicht retten
können. In einer zweiten Szene ist die Frau barbusig, wankt,
stolpert, stürzt, schreit herzzerreißend — der
Hilferuf der nun so Verletzlichen verhallt. Das Cello-Stück wird
zur Todesfuge. Wie Raben sitzen die Männer auf dem Gestänge,
und das schwindende Licht schluckt sie alle. Euphorischer Applaus für
die Akteure und Compagnie-Chef Pal Frenak.